Um die Vorsorgelücke zu berechnen, müsste man das Budget kennen

Wer sich wegen einer drohenden Vorsorgelücke Sorgen macht, soll daran denken: Es steht nirgends geschrieben, dass man ab 65 nicht mehr arbeiten darf.

Von Claude Chatelain

Kürzlich gelesen: «Die tiefen Zinsen führen zu Vorsorgelücken.» Grund genug, sich mit dieser Wortschöpfung etwas genauer zu befassen. Laut der Schweizer Mediendatenbank wurde der Begriff Vorsorgelücke in den letzten zwölf Monaten 213 mal verwendet. Stets geht es darum, Leserinnen und Leser zum Sparen zu ermuntern. So heisst es etwa: «Früh einzahlen macht sich bezahlt. Oder: «Späte Teilzeit-Rache nicht ausgeschlossen». Oder: «Der richtige Moment, um langfristig zu sparen, ist heute».

Es ist nie falsch, zu sparen, fragt sich nur zu welchem Preis.

Gemäss einer gängigen Empfehlung sollte man sich ab 50 intensiver mit der eigenen Vorsorge beschäftigen – idealerweise mit professioneller Unterstützung. So bleibe genügend Zeit, um allenfalls die richtigen Weichen zu stellen.

Im Bundesgesetz über die berufliche Vorsorge steht: «Die berufliche Vorsorge soll zusammen mit den Leistungen der AHV die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen.» Die 1. Säule, die AHV, deckt den Existenzbedarf ab. Die 2. Säule, die berufliche Vorsorge, ergänzt die AHV, so dass man bei der Pensionierung auf etwa 60 Prozent des letzten Lohnes kommt. Mit diesem Richtwert soll es möglich sein, weiterhin in der bisherigen Wohnung zu leben, die gewohnten Ausgaben zu tragen und ein normales, nicht luxuriöses, aber eben «angemessenes» Leben zu führen.

Hinzu kommt die steuerbegünstigte Selbstvorsorge der Säule 3a. Sie soll die beiden ersten Säulen nach individuellen Bedürfnissen ergänzen. Wer diese Möglichkeit vollständig ausschöpft, erreicht vielleicht rund 80 Prozent des bisherigen Einkommens.

Reicht das? Man weiss es nicht. Vorsorgeberater beanspruchen für sich – oder erwecken zumindest den Eindruck –, die drohende Vorsorgelücke Jahre im Voraus beziffern zu können. Nicht selten empfehlen sie, den Gürtel enger zu schnallen, um mehr sparen und in renditeträchtige Anlagen investieren zu können.

Das BVG trat vor 40 Jahren in Kraft. Damals hatten Rentnerinnen und Rentner andere Ansprüche als heute. Doch nicht nur die Bedürfnisse, auch die Fitness hat sich verändert. Früher war es üblich, bis 65 voll zu arbeiten und anschliessend vollständig in den Ruhestand zu treten.

Heute ist das anders: Gemäss einer Studie von Swiss Life waren 30 Prozent der 66-jährigen Männer und 21 Prozent der 65-jährigen Frauen zwischen 2018 und 2022 weiterhin erwerbstätig. 45 Prozent könnten sich «unter gewissen Bedingungen vorstellen», im Rentenalter weiter zu arbeiten. In Beratungsgesprächen und im Gesetzgebungsprozess wird dieses Szenario jedoch kaum berücksichtigt.

Mitunter wäre ein solcher Zusatzverdienst sogar hoch genug, um den Bezug der AHV-Rente aufzuschieben. Wer die AHV um fünf Jahre hinausschiebt, erhält Stand heute eine um 31,5 Prozent höhere Rente. Man rechne.

Damit nicht genug: In der kommenden Wintersession behandelt der Nationalrat eine Motion, die bei aufgeschobenen AHV-Renten noch höhere Zuschläge fordert. Der Ständerart stimmte dieser Motion in der Sommersession einstimmig zu.

Fragt sich bloss, ob der Fachkräftemangel auch wirklich anhält und ältere Semester auch in Zukunft ihr Knowhow nutzbar machen können. Willkommen bei KI. Da sind wir wieder bei den Prognosen - wie bei der Vorsorgelücke.