Wie gerecht ist das Investieren?
Von Helga Baechler
„Es ist schon verrückt, wenn man an der Börse mehr verdient als im Job. Steuerfrei. Das ist doch ungerecht!“
Diese Debatte führte ich kürzlich im Rahmen einer privaten Unterhaltung. Wie gerecht ist es, dass man an der Börse Kapitalgewinne ohne aktive Arbeit erzielen kann? Und dass diese nicht als Einkommen versteuert werden müssen?
Auf den ersten Blick scheint die Sache klar: Wer jeden Tag früh aufsteht, pendelt, Überstunden macht und Einkommenssteuer zahlt, trägt mit ehrlicher Arbeit zur Gesellschaft bei und tauscht Zeit gegen Geld. Wer dagegen in Aktien investiert, erzielt mitunter höhere Gewinne und zahlt auf Kursgewinne keine Steuern, erst im Rahmen der Vermögenssteuer. Ein Missverhältnis? Vielleicht. Aber nur, wenn man die ganze Geschichte nicht betrachtet.
Investieren ist nicht das Gegenteil von Arbeiten. Wer anlegt, verzichtet auf ein Stück Sicherheit, trägt Risiko, denkt langfristig und vertraut auf Märkte, Menschen und Fortschritt. Rendite ist kein Geschenk, sondern die Belohnung für Geduld und Mut. Für Durchhaltevermögen, den bewussten Verzicht auf Konsum und die Bereitschaft, Risiko zu tragen. Investieren bedeutet, auf kurzfristige Belohnungen zu verzichten, um langfristig grössere Gewinne zu erzielen. Ähnlich wie im bekannten Marshmallow-Test zur Impulskontrolle. Wer impulsives Kaufen vermeidet und langfristig denkt, profitiert vom Zinseszinseffekt und finanzieller Freiheit in der Zukunft. Investieren ist also nicht in erster Linie eine Frage des Geldes, sondern des Mindsets.
Die Kapitalmärkte sind heute demokratischer als je zuvor. Was früher nur Banken und Vermögenden vorbehalten war, steht nun jedem offen. Mit einem Smartphone, einer App und ein paar Hundert Franken, teilweise ohne Depotgebühren und mit sehr günstigen Orderkosten. Die Börse ist demokratisch geworden. Sie bestraft niemanden, sie bevorzugt niemanden. Sie ist für alle gleich. Ob Millionär oder Arbeiter, Supermodel oder Hausfrau. Die Regeln ändern sich nicht. Sie belohnt jene, die Verantwortung für ihr Geld übernehmen.
Das ist keine Ungerechtigkeit, sondern ein Ausdruck moderner Fairness. Die Regeln gelten für alle. Wer sich bildet, spart und investiert, profitiert. Wer lieber konsumiert, trägt ein anderes Risiko. Das, nie finanziell unabhängig zu werden.
Kapitalerträge sind keine unverdienten Privilegien. Wer Firmen als Aktionärin oder Aktionär mitfinanziert, trägt dazu bei, dass neue Arbeitsplätze entstehen, dass Innovation gefördert wird, dass Wachstum möglich ist. Vielleicht war Reichtum durch Arbeit das Ideal unserer Eltern. Finanzielle Freiheit durch Kapital ist das Werkzeug unserer Zeit.
